Donnerstag, 9. September 2010

Ein Wunder und eine Wunderkammer - der wiederaufgebaute Ostflügel des Museums für Naturkunde

 von Reinhold Leinfelder, 9.9.2010, mit diversen Nachträgen, zuletzt am 25.9.2010

Ein Wunder....

So wie oben sah es etwa 60 Jahre aus
(nur die Bäume in der Ruine wurden größer)


.... war es wirklich nicht (obwohl dies ein Berliner Pfarrer tatsächlich augenzwinkernd so bezeichnete, denn er müsse das ja schon von Berufs wegen wissen), sondern vielmehr harte Überzeugungsarbeit, um die benötigten Baumittel zu erhalten. Aber es könnte eine moderne Wunderkammer werden - so jedenfalls bezeichnete heute die Berliner Morgenpost den nun wiederaufgebauten Ostflügel des Museums für Naturkunde Berlin.

So oder so, heute ist jedenfalls ein schöner Tag, denn heute verschwand der letzte Teil des Fassadengerüsts am Ostflügel, der über 60 Jahren in Ruinen lag. Anlass für unseren Blog, die Wiederaufbaugeschichte dieser Beleg- und Forschungskammer für Evolution in einigen Bildern vorzustellen.


Im Sommer 2006 kamen die Bäume weg


Am 14.11.2006 erfolgte die symbolische Grundsteinlegung zum Wiederaufbau. Von links nach rechts: Architekt Roger Diener, Staatssekretär Dr. Hans-Gerhard Husung, Präsident der Humboldt-Universität Prof. Dr. Christoph Markschies, Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, Generaldirektor des Museums Prof. Dr. Reinhold Leinfelder
Was die Herren da in den Händen halten sind gerettete Originalkacheln aus der Ruine.
Der eigentliche Baubeginn war jedoch erst am 21.1.2008.




Zuerst wurde entkernt entkernt.
So sah es im November 2007 aus.




Und so im Juli 2008
November 2008


Dezember 2008

Im Winter 2008/2009 war zwar nicht der Wurm drin, dafür der Fuchs. Und der war kein Präparat, sondern lebendig und schlau. Mal im südlichen, mal im nördlichen Teil, immer dort, wo schon neue Fenster drin waren. Und die hat er auch noch zerkratzt (was so ein Fuchs in den Fußballen mitträgt, macht nette Kratzer). Wir waren dennoch nicht sauer, zumal er sich dann doch freiwillig ein anderes Plätzchen zulegte.

Im Mai 2009 sah es so aus.
Am 27.5.2009 war Richtfest

Im August 2009 waren wir in diesem Zustand
Ab Juli 2010 kamen die maßgeschneidert vorgefertigten Betonguss-Bauteile an.

Das ging flott von der Hand. Hier der Zustand am 15.7.2010
Ab  6.9.2010 kam das Gerüst weg. Und dann ging's wie im Zeitraffer. Hier der Zustand am 8.9.2010, 8:45
und hier am selben Tag um 17:20 Uhr. Plötzlich war alles aufgeräumt und grün (dank Rollrasen)
Und am9.9.2010 war auch der letzte Gerüstteil weg. Hier gut zu sehen: Kontrast zwischen noch originalem, restaurierten Gebäudeteil und ergänzter, bewusst in anderem Material und Färbung gehaltener Ersatzfassade.
Situation, 9.9.2010. Gut zu sehen ist das gelbbraune, restaurierte Originalgemäuer von 1889, die in grau gehaltene Ersatzfassade, sowie im Hintergrund der ebenfalls komplett restaurierte hellere Anbau des Ostflügels von 1917.
Ein Stückchen Rasen fehlt noch. Im Hintergrund schimmert der sog. Nordbau durch die Bäume.

Blick vom sog. Nordbau auf den Ostflügel. Stand 10.9.2010, 18:30.
Nun ist auch der Rasen komplett
zentraler Teil des modellartig ergänzten Teils. Foto © C. Richter, 13.9.2010


Kurz zum Konzept: Was noch original an Bausubstanz erhalten war, wurde restauriert, was durch den Kriegsschaden komplett zerstört war, wurde bewusst durch ein als solches erkennbares Imitat aus Beton ergänzt (das waren Fertigbauteile, die vorgegossen wurden, so etwas ist noch nie in dieser Größe gemacht worden). Diese vorgegossenen Teile wurde dann am Schluss wie gigantische Legobausteine zusammengesetzt. Die wiederaufgebauten, vormals komplett zerstörten Bereiche wurden also konsequent mit anderen Farbe und anderer Materialität gestaltet, so gibt es auch keine Holzfensterrahmen in diesem Bereich. Alles ist hier aus Beton, der gewissermaßen eine Modellzeichnung der früheren Fassade liefert. Der neue Ostflügel stellt also einerseits eine Einheit dar, andererseits wird klar erkennbar, was original und was ergänzt ist.
Nach diesem Konzept sind übrigens auch unsere Dinos aufgebaut. Was zu den Originalknochen ergänzt werden musste (weil ursprünglich nicht gefunden oder zerstört) ist dort auch in anderer Textur und etwas anderer Farbe gehalten, so dass Originalobjekt und Ergänzung leicht auseinandergehalten werden kann.
Das Museum wurde 1810 gegründet, es war ursprünglich im Hauptgebäude der Berliner Universität (heute Humboldt-Universität) Unter den Linden untergebracht und zog 1889 in den extra für das Museum errichteten heutigen Bau um.

Von der inneren Wunderkammer wird vor der Eröffnung am 14.9.2010 noch nicht alles verraten. Nur soviel: die komplette Nasssammlung des Museums ist nun dort über 6 Stockwerke verteilt untergebracht. Unter Nasssammlung verstehen wir Tierobjekte, die in Alkohol aufbewahrt werden. Dies erhält alle Gewebe sowie die DNA. Das Museum hat etwa 276.000 Gläser, mit ca. 1 Million Tieren in diesen Gläsern. (Insgesamt beherbergt das Museum mehr als 30 Millionen Sammlungsobjekte). Für die Alkoholfüllung sind 84.000 Liter Alkohol nötig. Das unterste Stockwerk wird als Forschungssammlung den Besuchern erstmalig zugänglich sein. Die ältesten dort aufbewahrten Sammlungen stammen aus dem 18. Jahrhundert.

Links: noch ungefülltes Regalsystem im unteren Stockwerk des Ostflügels.
Rechts: Computersimulation des gefüllten Regalsystems.
13.9.2010: Blick in den öffentlich zugänglichen Bereich der Nasssammlung

Fotos @ Museum für Naturkunde Berlin (überwiegend erstellt durch Carola Radke und Reinhold Leinfelder)


Und hier noch das Gedicht, welches ich ganz wunderlich zur Eröffnung rezitierte. Es stammt von meinem Coach Joachim Ringelnatz. Ich hab ihn sozusagen zu unseren Themen, also zu biologischer Vielfalt auch in wenig erforschten Biotopen, zu Populationsdynamik, zu Aussterbeereignissen und, ja, auch zu Nasssammlungen befragt. Hier seine Antwort:

Wunderland:

Überall ist Wunderland
Überall ist Leben
Bei meiner Tante im Strumpfenband
wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit
Überall ist Ewigkeit.

Wenn du einen Schneck behauchst,
schrumpft er ins Gehäuse
wenn du ihn in Kognak tauchst,
sieht er weiße Mäuse

 

Dies ermutigte mich zu einer näheren Aussage im ganz aktuellen Kontext. Ob ich richtig verstanden habe, weiß ich nicht, hier ist jedenfalls meine "Übersetzung" 

Das Museum ist ein Wunderland
denn überall ist Leben
im Ostflügel, im Berliner Sand
wie überall daneben
Überall ist Evolution
und der Mensch ist Täter
schon 5 Jahre später
Stirbt was aus, oh welch ein Hohn
durch menschgemachte Selektion

Studier den Fisch in Alkohol
lern' Neues, denn das wäre
für deine Zukunft sehr zum Wohl
sonst siehst du nur Schimäre

 

Übrigens, Sie können einen Ringelnatz auch im Ostflügel bewundern, denn Ringelnatz heißt in der Seemannssprache nichts anderes als Seepferdchen. 

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Weitere Informationen:

Vorwort der aktualisierten Ostflügelbroschüre:

65 Jahre nach der katastrophalen Bombardierung des Museums für Naturkunde Berlin im Jahr 1945 ist es ein wunderbares Gefühl, die Eröffnung seines wieder aufgebauten Ostflügels erleben zu können. Vergessen sind alle Schwierigkeiten, die Anläufe, aus denen dann doch nichts wurde, die finanziellen Zwänge, die Verzögerungen und unerwarteten Herausforderungen. Die Verantwortlichen werden künftig angesichts der hohen Sicherheitsstandards im neuen Sammlungsflügel wieder ruhiger schlafen können, in der Gewissheit, dass die dortigen Sammlungen unter konservatorischen und sicherheitstechnischen Bedingungen untergebracht sind wie es sie am Museum noch nie gab und wie es sie in Naturkundemuseen weltweit nur ganz selten gibt. Das ganz Besondere am neuen Sammlungsflügel geht freilich weit darüber hinaus.

Die hohe wissenschaftliche Bedeutung der dort untergebrachten sogenannten „Nass-Sammlungen“, der in Alkohol konservierten Präparate des Museum, skizzieren die hier folgenden Seiten. Wie hoch diese wissenschaftliche Bedeutung ist, lässt sich daran ermessen, dass der Start zum Wiederaufbau des Ostflügels eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Aufnahme des Museums in die Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahr 2009 war.
Unsere Nass-Sammlungen sind indessen mehr als nur wissenschaftlich bedeutend; sie sind auch von höchstem wissenschafts- und kulturhistorischem Wert. An ihnen, wie auch an den anderen Sammlungen des Museums, lassen sich bedeutende Entwicklungen in der Geschichte der Wissenschaft ablesen – von den ersten naturkundlichen Sammlungen im 17. und 18. Jahrhundert über die wissenschaftliche Erschließung der deutschen Kolonie am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert bis zu den eingeschränkten wissenschaftlichen Möglichkeiten in den Zeiten des Kalten Krieges. Der neue Sammlungsflügel ist daher auch die Schutzhülle um einen nationalen kulturellen Schatz. Von den Nass-Sammlungen geht zudem eine emotional-ästhetische Faszination aus, die den Betrachter in ihren Bann zieht. Ich bin deshalb überzeugt, dass die im Erdgeschoss der Öffentlichkeit zugänglichen Sammlungen zu den größten Attraktionen des Museums, wahrscheinlich sogar Berlins gehören werden.

Dass es gelungen ist, den Ostflügel in den Museumsrundgang einzufügen, obwohl wir es bei den Nass-Sammlungen mit großen Mengen brennbarer Flüssigkeit zu tun haben, gehört mit zu den erfreulichsten Aspekten des Bauprojekts. Dem Publikum bietet sich damit ein authentischer Einblick in unsere Forschung. Was der Besucher sieht, ist keine inszenierte Ausstellung, kein „Wir machen mal so, als sei das ein Sammlungsraum“, sondern tatsächlich eine echte Sammlung, die täglich für wissenschaftliche Zwecke genutzt wird – ein weiterer Schritt, unseren Museumsbesuchern einen Eindruck davon zu vermitteln, dass das Museum nicht nur ein Ausstellungsort, sondern auch – und eigentlich vor allem – eine international bedeutende Forschungseinrichtungen ist, mit einer der weltweit größten Sammlungen.

Nicht übersehen werden sollte, dass der neue Sammlungsflügel auch ein architektonisches Meisterwerk ist, ein Meisterwerk, das die selbe Philosophie verfolgt, wie sie für unsere Ausstellungen gilt: Dort, wo etwas fehlt, beispielsweise ein Knochen bei einem ausgestellten Dinosaurier, wird das fehlende Teil ergänzt, aber dabei so gestaltet, dass erkennbar bleibt, was echt, was ergänzt ist. Im Fall des Ostflügels gilt dies, wie auf Seite 10 dargelegt, für die Fassade. Eine für das Museum besser geeignete Fassade kann ich mir nicht vorstellen!

Ein Detail noch zum Schluss: Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass einerseits das Museum für Naturkunde jenes Berliner Museum war, das nach dem II. Weltkrieg als allererstes seine Pforten wieder öffnete, sein zerbombter Ostflügel andererseits am Ende als „letzte Kriegsruine Berlins“ tituliert werden musste. Diese Scharte ausgewetzt zu haben, gehört für mich zu den erfreulichsten Ereignissen des Jahres 2010! Diesen Erfolg im Rücken gilt es nun, mit Schwung und Engagement an die weiteren Schritte der Sanierung des wunderschönen Museumsgebäudes zu gehen. Was ursprünglich wie ein Fass ohne Boden wirkte, wandelt sich nun, nach der Renovierung von Teilen der Ausstellungsräume und der Wiedererrichtung des Ostflügels, zunehmend zu einer lösbaren Aufgabe, die Fahrt aufnimmt. In diesem Zusammenhang gilt unser besondere Dank allen an der Errichtung des neuen Sammlungsflügels Beteiligten: den Bauenden, der Humboldt-Universität als Bauherrin, den beteiligten Senatsverwaltungen, den Zuwendungsgebern bei Bund und Land, dem Wissenschaftsrat, dem Architekten, dem Statiker, der Bauleitung und der Projektsteuerung.

Reinhold Leinfelder, im Sommer 2010

Montag, 6. September 2010

200 Jahre Museum für Naturkunde Berlin - ein Grund zum Feiern

Atemberaubende Einblicke: Jubiläumsausstellung und Einweihung des neuerrichteten Ostflügels zum 200. Geburtstag des Museums für Naturkunde!


Wir schauen auf 200 Jahre Forschen, Sammeln, Bewahren und Vermitteln zurück. Aus diesem Anlass präsentieren wir vom 14.9.2010 bis 28.2.2011 die Sonderausstellung "Klasse, Ordnung, Art – 200 Jahre Museum für Naturkunde". Mit Objekten, Bildern und Dokumenten wird die bewegte Geschichte des Museums im Kontext von wechselnden politischen Verhältnissen und geistigen Strömungen vorgestellt.

Die Krönung der aktuellen Geschichte des Museums ist am 14.9.2010 die Einweihung des neuerrichteten Sammlungsflügels – einem der weltweit modernsten Sammlungsgebäude für naturkundliche Nass-Sammlungen. Über eine Million Objekte der zoologischen Sammlungen werden Dank einer ausgeklügelten Klimatisierungs- und Brandschutztechnik so optimal und sicher untergebracht wie nie zuvor. Dank seiner herausragenden Sicherheitstechnik ist der Sammlungsbau für unsere Besucher im Erdgeschoss zugänglich und verspricht einen atemberaubenden Einblick in eine unserer Forschungssammlungen.

In der Jubiläumswoche vom 14.9.2010 bis 19.9.2010 bieten wir ein buntes Programm mit Theater, Führungen, Vorträgen und einem Kinder- und Familienfest.

Herzlich Willkommen, Ihr Reinhold Leinfelder



Einführung:
Einblick in den Ostflügel, hier
noch ohne Sammlungsobjekte

200 Jahre Museumsgeschichte – ist ein Haus wie das Museum für Naturkunde ein Bollwerk in der Brandung der Schnelllebigkeit und des Vergessens? Ein Ort des Innehaltens und der Entschleunigung? Ein Garant für Kontinuität und Nachhaltigkeit? Oder ist es doch ein Treiber für die Wissenschaft, für Forschungsinnovation, für die öffentliche Diskussion aktuellster wissenschaftspolitischer Themen, ja gar für die Transformation unserer Gesellschaft? Die Geschichte des Museums über zwei Jahrhunderte, aber auch die Entwicklung gerade in den letzten fünf Jahren zeigt, dass das eine das andere nicht ausschließen muss, sondern kongruent zusammenpasst und komplementär zusammengehört. Das Museum für Naturkunde bürgt für Vielfalt und Evolution, auch in seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Themen. Es hat Katastrophen und Krisen überstanden, wurde davon in Mitleidenschaft gezogen,
ist aber auch daran erstarkt.

Wissenschaft ist ein hohes Gut – wir leben heute angeblich in einer Wissensgesellschaft, in der Wissen unsere Schlüsselressource ist, in der die Ungleichheit des Wissens eine Hauptherausforderung darstellt und in der nicht die Politik, sondern nur eine wissensbasierte Kultur viele soziale und ökonomische Probleme lösen kann. Doch wissensbasierte Gesellschaften sind nichts Neues. Auch zur Gründungszeit des Museums, damals als integrativer Teil der Berliner Universität, sollte die Gesellschaft wissensbasiert werden, Wilhelm von Humboldt, der wesentlich an der Gründung beteiligt war, steht dafür. Aufklärung, Industrialisierung, Informationszeitalter, all dies wäre ohne Wissen nicht entstanden. In welcher Weise Wissenschaft und Gesellschaft zusammen- oder auch gegeneinanderspielten, wie Wissenschaft einerseits unabhängig, andererseits doch auch durch den gesellschaftlichen Zeitgeist immer wieder geprägt ist, auch dies prägt die Geschichte des Museums für Naturkunde. Interessant ist auch, wie heute Wissen generiert wird und welche Rolle Museen wie das Museum für Naturkunde dabei spielen.

Rund 30 Millionen Objekte, als ob das nicht schon ausreichend Material zum Beforschen wäre! Nein, die naturkundlichen Forschungssammlungen Deutschlands, Europas und der ganzen Welt verstehen sich heute als globale Forschungsinfrastruktur, in der alle Daten rund um die Sammlungsobjekte zu einer gewaltigen Wissensdichte, zu einem hochauflösenden Bild unserer Natur und ihrer Entwicklung führen, welches als Forschungsgrundlage für Szenarien, Modelle und Prozessabläufe der Natur unabdingbar geworden ist.  Ob es um die Invasion von gebietsfremden Arten, die Veränderung der biologischen Vielfalt durch Klimaprozesse, um bestmögliche Dimensionierung von Schutzgebieten in Afrika oder um das Auffinden geeigneter Populationen für die Wiedereinbürgerung lokal ausgestorbener Arten wie den Lachs in der Elbe geht, sammlungsbasierte Naturkundemuseen liefern die wissenschaftlichen Grundlagen dafür.

Mit unseren Sammlungen, die aus der ganzen Welt stammen, wurde in den letzten 200 Jahren unter hohem Ressourceneinsatz immenses Wissen erarbeitet und es wird weiter generiert. Neue Aufsammlungen sowie deren Bearbeitung werden heute immer in Kooperation mit den Partnern vor Ort durchgeführt. Heute geht es aber auch darum, das in 200 Jahren erarbeitete sammlungsbasierte Wissen auch wieder global zur Verfügung zu stellen; wir  arbeiten sozusagen an der globalen Repatriierung dieses Wissens. Auch die Politik hat die entsprechende wissenschafts-, bildungs- und entwicklungspolitische Bedeutung des Museums für Naturkunde erkannt. Ein erfreuliches Beispiel dafür ist die internationale Eröffnung des UN-Jahres der Biodiversität im Januar 2010 durch die deutsche Bundeskanzlerin sowie hochrangige Regierungs- und UN-Repräsentanten.

Wissensbasierte Politik kann jedoch nur gelingen, wenn sie von der Bevölkerung mitgetragen wird. Dies ist vielleicht die nobelste Aufgabe auch unseres Hauses: Wir wollen unseren Besuchern die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung, aber auch deren Zuständigkeitsgrenzen für unsere Gesellschaft erläutern und Vertrauen schaffen. Dazu schließen wir die Wertschöpfungskette von sammeln, forschen und vermitteln. Unsere Ausstellungen als öffentliche Publikation des durch unsere Forschung gewonnenen Wissens, der öffentlich zugängliche Teil des wieder aufgebauten Ostflügels als Beispiel für unsere Hauptforschungsinfrastruktur, den Sammlungen, sowie unsere vielen partizipativen Aktivitäten zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzen diesen Anspruch um, denn wir sind uns in einem vollkommen sicher: Wir lieben nur, was wir kennen. Und was wir lieben, wollen wir auch für unsere nachkommenden Generationen bewahren. Hier schließt sich der museale Kreis von historischem Archiv, hochaktueller Forschungsstätte und zukunftsorientiertem Wissenstransfer zur Errichtung einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Gesellschaft.

Reinhold Leinfelder, im Sommer 2010
(gekürzte Version des Vorworts aus dem Begleitbuch zur Ausstellung)

> Weitere Informationen zum Begleitbuch


Veranstaltungshinweise:

Feiern Sie mit uns das 200-jährige Bestehen unseres Hauses in unserer Jubiläumswoche vom 14. bis 19. September 2010.
Viele Angebote, Aktionen und Überraschungen erwarten Sie. Wir bieten ein vielfältiges Programm für Erwachsene und Kinder. Museumsfest am Wochenende.

14.-17.9.: Sonderöffnungszeiten jeweils bis 20.00 Uhr, stündlich kostenfreie Führungen durch die Jubiläumsausstellung und die neue Schausammlung im Sammlungsflügel.

15.9.: Jubiläumsvortrag 20.00 Uhr:
Prof. Dr. Reinhold Leinfelder, Generaldirektor:
Die Rolle der Museen beim Aufbau einer Wissensgesellschaft

18.9.: Sonderöffnungszeit bis 22.00 Uhr bei freiem Eintritt,
11.00-18.00 Uhr: Kinderfest

19.9.: Sonderöffnungszeit bis 20.00 Uhr bei freiem Eintritt
20.00 Uhr: Papageno packt aus. Konzerttheater für Erwachsene und Kinder.

Weitere Sonderveranstaltungen zum Jubiläum sind im Kalender veröffentlicht.

Samstag, 4. September 2010

Ach du lieber Darwin - warum hat Sarrazin dich nicht gelesen?

von Reinhold Leinfelder

Es darf vermutet werden, dass Thilo Sarrazin Charles Darwins Hauptwerk nicht gelesen hat. Und zugegeben, ich habe umgekehrt Sarrazins Buch nicht komplett gelesen. Es hat mir schon genügt, was ich am Freitag vor dem offiziellen Erscheinen in einem renommierten Berliner Buchladen sah: meterhohe Stapel des Buchs im Eingangsbereich, vor den Kassen und in den Leseecken. Ja, und das lange Reinlesen im Buchladen sowie die Vorabpublikationen waren genügend aufschlussreich. Warum aber erwähne ich dies hier, in diesem Blog geht es doch um Dinge rund um die Evolutionstheorie? Nun, Sarrazin beruft sich bekanntermaßen in diesem Buch auf Selektion, Genetik, Vererbung von Intelligenz usw.. Darwin und die daraus abgeleitete und ständig modernisierte Evolutionstheorie hat er dabei jedoch überhaupt nicht verstanden, wie er sich nun vielfach nachweisen lassen musste. Statt dessen argumentiert er mit einem Sozialdarwinismus (eigentlich richtiger einem Spencerismus) schlimmster Sorte.

Für diejenigen, die davon nicht überzeugt sein sollten, oder die "Dysgenik"-Argumentation Sarrazins nicht kritisch finden, sei nachfolgend nur auf wenige, exemplarische Zeitungsartikel verwiesen, die vielleicht ein klareres Bild ergeben.

Das im Kontext des Darwin-Blogs wirklich Ärgerliche an Sarrazins "Thesen" ist jedoch, dass auch nach einem (Darwin-)Jahr intensiver Diskussion um Bedeutung, Übertragbarkeit und Grenzen der Erklärungsfähigkeit der biologischen Evolutionstheorie, sowie nach vielfältigen Klarstellungen, dass Mensch und menschliches Verhalten nicht allein "biologistisch" erklärbar sind (was auch von differenziert vorgehenden Soziobiologen und Evolutionspsychologen so gesehen wird), nun sogar eine quasi-Eugenik-Debatte wieder salonfähig wird. Wie hoch oder niedrig die Defizite einer deutschen Migrationspolitik auch sein mögen, was ich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren möchte - mit derartiger pseudowissenschaftlicher Polemik und derart fehlerhafter Datenverwendung wie sie Herr Sarrazin betreibt, verhindert man nicht nur eine differenzierte Debatte um Integration, sondern untergräbt letztendlich auch das Vertrauen in wissenschaftsbasiertes Arbeiten. Herr Sarrazin fördert damit m.E. indirekt auch wieder Vorbehalte gegen die Wissenschaft und verstärkt den weitverbreiteten Wissenschaftsskeptizismus. Auch dies ist ein Grund, warum nachfolgend einige Zeitungsausschnitte aufgeführt werden. Mir ist klar, dass Auszüge aus Artikeln ggf. nicht den Tenor des Gesamtartikels wiedergeben könnten, daher werden auch, sofern vorhanden, die Links zu den Online-Versionen der Artikel angegeben. Ich empfehle diese auch zu lesen.

Christian Geyer war wohl der erste, der den Sarrazinschen Biologismus beim Namen nannte. Er schrieb dazu zu Sarrazins Thesen unter dem Titel "So wird Deutschland dumm" in der FAZ vom 26.8.2010.
Auszüge: "... Tatsächlich ist das Elementare bei Sarrazin das Biologische. Kulturell ist bei ihm ein Deckwort für genetisch. Hat man dies begriffen, liest man Sarrazins Sorge um die „kulturelle Identität“, die „kulturelle Substanz“ und den „Volkscharakter“ Deutschlands mit anderen, den richtigen biologischen Augen. Obwohl halb verschwiegen, tritt die These in seinem Buch klar hervor: Die islamische Immigration nach Deutschland muss gestoppt werden – und zwar aus „letztlich“ genetischen Gründen. ... Das ganze Buch liest sich wie ein antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage. Wie ein verdeckt operierender Detektiv versucht Sarrazin, aus „elementarer Sicht“ belastendes Material gegen Türken, Afrikaner und Araber zusammenzustellen. Um den Leser für die Genetik der Intelligenz zu gewinnen, legt Sarrazin die jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung und deren Verbot durch die Nazis dar. ... Jedes Kapitel bietet eine weitere Facette des biologistischen Panoptikums. „Das Problem ist nicht, dass die Zahl der Nachfahren von Menschen mit hoher Bildung von Generation zu Generation schrumpft“, schreibt Sarrazin. „Das wäre nicht so wichtig, wenn alle Menschen gleich begabt wären, dann wäre Bildung nämlich eine reine Erziehungsfrage. Da Bildungsgrad und erbliche Intelligenz aber in einem befruchtenden Zusammenhang stehen, muss es mit der Zeit abträglich für das intellektuelle Potential der Bevölkerung sein, wenn Menschen mit hohem Bildungsgrad andauernd eine unterdurchschnittliche und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad andauernd eine überdurchschnittliche Fertilität haben.“

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Interview mit dem Genetiker Markus Nöthen im Kölner Stadtanzeiger vom 31.8.2010:
„Es gibt keinen Volks-IQ“. Der Bonner Genetiker Markus Nöthen betont, dass Lernfähigkeit keine Frage der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozioalen Gruppe ist.

Auszug: "Herr Professor Nöthen, Thilo Sarrazin beschreibt Migranten-Gruppen wie Araber oder Türken als bildungsfern und lernschwach und leitet diese Eigenschaften auch von genetisch vererbten Anlagen her. Sind solche Thesen wissenschaftlich haltbar?
MARKUS NÖTHEN: Nein. Sarrazin bezieht sich auf Studien, nach denen 50 bis 80 Prozent der Intelligenz genetisch begründet seien. Fest steht, dass Intelligenz zu gewissen Teilen vererbt werden kann, es durch die Vielzahl der beteiligten Gene aber bei Nachkommen immer wieder zu neuen Kombinationen kommt. Weniger intelligente Eltern können hochintelligente Kinder haben und umgekehrt. Die Bandbreite ist riesengroß. Außerdem spielen die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in denen Kinder aufwachsen, für die Intelligenz ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn Migranten aus ländlichen Gebieten ohne nennenswerte Bildungsangebote zu uns kommen, ist deren Bildungstand logischerweise im Durchschnitt eher gering. Aber über die durchschnittliche Intelligenz dieser Gruppe sagt das überhaupt nichts aus. Sie wird eine ähnliche Zusammensetzung aus intelligenten und weniger intelligenten Mitgliedern aufweisen wie die Bevölkerung insgesamt."

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Frank Schirrmacher schrieb am 1.9.2010 in der FAZ:
Sarrazins Quellen. Biologismus macht die Gesellschaft dümmer
Als hätte es alle Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gegeben: Im Innersten seines Buches hat Thilo Sarrazin eine vulgärdarwinistische Gesellschaftstheorie versteckt. Der Autor verschleiert die Terminologie und geht fahrlässig mit seinen Quellen um.

(Auszüge:".... Ein Kernsatz des Buches lautet: „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ,survival of the fittest‘, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“ .... Das sind unerhörte Sätze. Und Sarrazin weiß das. Es ist schlichtweg unseriös, wie fahrlässig er mit seinen Quellen umgeht.
Damit der Kunde nicht merkt, wohin die Reise mit Sarrazin geht ... Sarrazin meint faktisch „Entartung“ – daran kann angesichts der Quelle kein Zweifel bestehen –, aber er nennt das Wort nicht. So geht es einem immer wieder mit diesem Buch. Es täuscht über seine Grundlagen. ... Sarrazin blendet eine jahrhundertelange, zum Teil verheerende wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte darwinistischer Theorien aus und schließt an sie an, als seien sie Erkenntnis von heute. Damit es nicht auffällt, verschleiert er die Terminologie. ... ... Die Amerikaner, die 1914 mit der Diskussion einer Einwanderungspolitik auf erbbiologischer Grundlage begannen, haben dies bitter bereut .... "

> zum ganzen Artikel.  (Link inzwischen inaktiv, siehe ggf. hier)
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Adrian Kreye und Christian Weber schreiben in der Süddeutschen vom 2.9.2010 unter dem Titel "Gehirn und Erbse" zum Thema Intelligenz im Sarrazinschen Kontext: "Es gibt ja auch kein Strick-Gen: Thilo Sarrazin politisiert mit seinen Aussagen über erbliche Intelligenz wissenschaftliche Ungewissheiten. Und was ist überhaupt Intelligenz?"

Auszüge: "... Und deswegen sind solche volkstümlichen Debatten kein Bildungserfolg, sondern ein Problem. Thilo Sarrazin hat in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" ein rhetorisches Minenfeld betreten. Er führt die Naturwissenschaften als Zeugen für seine gesellschaftspolitischen Thesen vor. ... "Es gibt keine Einbahnstraße vom Genom zur Persönlichkeit, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes Wirkungsnetz", kommentiert der Berliner Psychologe Asendorpf. Dass ein Gen direkt auf eine Persönlichkeitseigenschaft wie Intelligenz wirke, sei ähnlich abwegig wie die Annahme, es müsse sich ein Strick-Gen im menschlichen Genom verbergen, nur deshalb, weil fast ausschließlich Frauen diese Tätigkeit ausüben und das Geschlecht sich nun mal in aller Regel rein genetisch entscheide. ... im Übrigen gibt es für die Warner vor dem intellektuellen Untergang des Abendlandes noch eine interessante Nachricht: In den westlichen Kulturen nahm zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der durchschnittliche IQ beständig zu. Und dieser Zuwachs von etwa drei Punkten pro Jahrzehnt war zu schnell, um ihn genetisch zu erklären. Vermutlich beruhte dieser sogenannte Flynn-Effekt auf den sich ständig verbessernden Lebensbedingungen von Schwangeren und Kleinkindern, wohl deshalb korreliert er auch mit der ständig wachsenden Körpergröße.
So wissenschaftlich differenziert argumentiert Thilo Sarrazin also gar nicht. Er führt dann eben doch Charles Darwin und Gregor Mendel ins Feld, deren genetische Grundlagenforschungen aus dem 19. Jahrhundert zunächst einmal den Erbsen und den Schnabeltieren galten. Die großen Namen der modernen Genetik und Evolutionsbiologie, Steven Pinker, George Church oder Craig Venter, die Debatten die sie auslösten, die fehlen. Denn die Unsicherheiten der Wissenschaft passen nicht in die schlichte Rhetorik von "Deutschland schafft sich ab"."

> zum ganzen Artikel.
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Interview mit der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, auf die sich Sarrazin beruft (FAZ vom 2.9.2010): Jeder kann das große Los ziehen. Thilo Sarrazin beruft sich für sein Programm der positiven Selektion auf die Lernforschung der Psychologin Elsbeth Stern. Sie lehnt diese Vereinnahmung ab. Es mache keinen Sinn, davon zu sprechen, Intelligenz sei zwischen 50 und 80 Prozent erblich.

> zum ganzen Interview
(Link ist inzwischen deaktiv, > hier kostenpflichtig)
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Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland hat am 2.9.2010 ebenfalls deutlich die Vereinnahmung der Evolutionswissenschaften und Genetik durch Sarrazin zurückgewiesen:
VBIO: Thilo Sarrazin hat grundlegende genetische Zusammenhänge falsch verstanden.

Auszüge: "... In Bezug auf die Aussagen Sarrazins zur Genetik verwehrt sich der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e. V.) entschieden gegen jede politische Instrumentalisierung biologischer Fakten. – Sei es durch Thilo Sarrazin selbst, sei es durch andere Teilnehmer der derzeit laufenden öffentlichen und medialen Debatte. Die genetischen Thesen von Herrn Sarrazin sind nicht mit den modernen Erkenntnissen zur Evolutionsbiologie des Menschen vereinbar.
Evolutionsbiologisch gesehen ist der Mensch eine der genetisch homogensten Spezies die es auf der Erde gibt. Im Vergleich zu anderen Spezies sind die Unterschiede zwischen Populationsgruppen sehr gering. Tatsächlich sind die Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen etwa 5-fach höher als zwischen ihnen.
.... Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer. Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt die Unterschiede zwischen Gruppen bei weitem. Selbst wenn es zu lokalen Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte (wie z.B. durch Inzucht in Alpentälern), würden diese Verteilungsunterschiede im Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen (dafür reicht bereits ein 1%-iger Genfluss). Es ist daher davon auszugehen, dass jede Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potential für Intelligenzleistungen hat."

Zum ganzen Artikel
Die VBIO-Stellungnahme wurde auch in Tagesspiegel online publiziert.
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Allan Posener fragt sich in der WELT (2.9.10) in einem lesenswerten Artikel sogar, warum Sarrazin antisemitische Stereotypen transportiert.
> zum Artikel
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Und zum Schluss sei noch auf den sehr dezidierten, m.E. aber durchaus gerechtfertigten Artikel im aktuellen SZ-Magazin (3.9.2010) hingewiesen, in dem sich Andreas Bernard u.a. überaus wundert, warum Spiegel und Bild derart lange Passagen dieses Buchs abgedruckt haben und damit eine öffentliche Diskussion auslösten, die das Buch noch vor Erscheinen zum Verkaufsschlager machte (Artikel leider nicht online verfügbar).

Auszüge: "... In einem PISA-Test für Sachbücher läge Deutschland schafft sich ab ungefähr auf dem Platz von Bremen, was seine Lesbarkeit und die Sorgfältigkeit des Lektorats betrifft. Dieses Buch ist ein wucherndes Gebilde: in seiner Fehlerhaftigkeit überraschend bildungsfern, in seiner Dickleibigkeit fast adipös, dabei allerdings so fortpflanzungsfreudig, dass der Argumentatsionskeim eines Kurzreferats zu einem Riesenwälzer angewachsen ist. Nimmt man noch die Perspektive des Erzählers hinzu, die es an Verengung mit dem Augenschlitz einer Burka lässig aufnehmen kann, gleicht Thilo Sarrazins Buch eigentlich exakt seinem Feindbild: ein übergewichtiger, fertiler Religionsfanatiker. .... Ein Buch prägt also die gegenwärtige Diskussion, das in Vokabular und Argumentation nahtlos an die rassenbiologischen STandardwerke der Zeit um 1900 anschließt. Man müsste in den Traktaten eines Alfred Ploetz, Erfinder des Wortes "Rassenhygiene", nur das Wort "slawisch" durch "muslimisch" und "Rasse" durch "Glauben" ersetzten und hätte dieselben Hypothesen. ... Seit 70 Jahren diskreditierte Scchlagwörter wie "Eugenik" etwa kommen kein einziges Mal vor. DEr Seltene und daher ungefärdete Gegenbegriff der "Dysgenik" fällt dagegen ständig, in dem Zusammenhang, dass die ungehinderte Fortpflanzung muslimischer Einwanderer zur Schädigung des deutschen Erbguts führt.
Es gäbe eigentlich nur eine angemessene Reaktion auf Deutschland schafft sich ab: Schweigen"
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Und schweigen wird der Ach du lieber Darwin-Blog zum Thema Sarrazin nun auch wieder.

(Link-Fix vom27.4.2016)