Samstag, 2. Mai 2009

Evolutionäre Medizin

Und gleich noch ein Hinweis auf einen interessanten online-Artikel fürs Wochenende:

Genetisches Erbe
Die Evolution des Menschen kommt nicht hinterher

von Elke Binder, DIE WELT online 29.4.09

Wir tragen die Gene des Steinzeitjägers: Doch die Lebensumstände haben sich so rasant verändert, dass die Anpassung unseres Erbguts zurückbleibt. Was früher ein Überlebensvorteil war, hat sich ins Gegenteil verkehrt – Krebs etwa war vor 10.00 Jahren kein Thema. Diese Erkenntnis will die Medizin nutzen.

Wenn Randolph Nesse vor Ärzten spricht, dann muss er stets Überzeugungsarbeit leisten. Der US-Forscher von der University of Michigan in Ann Arbor ist einer der Väter der evolutionären Medizin. Seit den 90er-Jahren hat er unermüdlich herausgearbeitet, welche Bedeutung Darwins Theorie für die heilende Zunft hat. Viele traditionell orientierte Mediziner aber halten einen solchen Ansatz für „Hokuspokus“, beklagt Nesse. Manchmal werfen sie ihn sogar in einen Topf mit der in ihren Kreisen so umstrittenen Homöopathie. Ärzte würden in ihrer Ausbildung einfach zu wenig über Evolution lernen, um deren Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten erfassen zu können.

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Wieso hat uns die Evolution so anfällig für Krankheiten gemacht? Weshalb plagen uns Rückenschmerzen und Bluthochdruck, ganz zu schweigen von Herzinfarkt, Krebs oder Alzheimer? Sollte die natürliche Selektion unsere Körper nicht perfekt gestaltet haben?
Nein, heißt darauf ganz klar die Antwort. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einen gibt Detlev Ganten, bis vor Kurzem Chef der Berliner Charité-Universitätsmedizin, der sich in Deutschland für eine evolutionäre Sichtweise in der Medizin einsetzt. „Wir sind für das Leben als Jäger und Sammler geschaffen worden“, sagt Ganten. „Viele der damals entstandenen Eigenschaften sind aber den heutigen Bedingungen des Lebens nicht mehr angepasst.“ Kurzum: Wir leben im 21.Jahrhundert mit Steinzeitgenen. Wir sind an die Umwelt der Zeit von vor 2,5 Millionen bis 10.000 Jahren angepasst, als der moderne Mensch sich herausbildete, nicht an langes Sitzen im Büro, Pommes frites und Eiscreme.

Unsere jetzige Umwelt existiert noch nicht lange genug, als dass die Evolution unsere Körper auf die neue Lebensweise hätte abstimmen können. Wie das schiefgehen kann, zeigt Gantens Forschungsgebiet, der Bluthochdruck. Vor zwei Millionen Jahren waren die ersten Menschen der Gattung Homo in den Savannen Afrikas zu Hause, wo Salze und Wasser knapp waren.

Sie verloren diese zudem mit dem Schweiß, denn es war heiß, und unsere Vorfahren bewegten sich als Jäger und Sammler viel. Das sogenannte Renin-Angiotensin-System (RAS) unseres Körpers, ein Regelkreis aus mehreren Hormonen, entwickelte sich daher so, dass es den Blutdruck unter allen Umständen aufrecht erhalten und ein Austrocknen verhindern konnte.


Noch heute funktioniert dieses System so, als müsse es einen Mangel an Salz und Wasser regulieren. Tatsächlich aber bewegen wir uns wenig und konsumieren viel Salz. Die Folge: Das RAS ist überaktiviert, der Bluthochdruck bei 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu hoch. Unbehandelt drohen Schlaganfall oder Herzinfarkt. „Der Prävention kommt somit eine zentrale Bedeutung zu“, folgert Ganten. „Wir müssen körperlich aktiver werden, weniger essen und Salz sparsamer verwenden.“ Ein bisschen so wie unsere Vorfahren in der Steinzeit halt. In einigen Fällen, so Ganten, sei es aber zudem notwendig, Bluthochdruck medikamentös zu senken.

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Beispiel Bluthochdruck: Vermutlich hatten Menschen, bei denen er leicht erhöht war, einen Vorteil, denn er bewirkt eine bessere Durchblutung von Organen und Muskeln und machte sie somit leistungsfähiger.
Das damit verbundene höhere Risiko von Herzversagen tritt meist erst in höherem Lebensalter auf. Viele Steinzeitmenschen haben dieses aber sowieso nicht erreicht, sie starben früh durch Infektionen und wilde Tiere. Vor allem aber hatten sie dann schon Nachkommen gezeugt. Und allein das zählt für die Evolution. „Gesundheit ist nicht das Ziel der Selektion“, sagt der US-Forscher Nesse. „Es ist Vermehrung."

Was erst im Alter schädlich ist, nachdem die reproduktive Phase abgeschlossen ist, befindet sich, so formuliert es auch Ganten „im toten Winkel der Evolution“. Diese Sichtweise kann auch erklären, warum wir unter Krebs leiden. Der Biologe Mel Greaves vom Institute for Cancer Research in London verdeutlichte 2003 in seinem Buch „Krebs – der blinde Passagier der Evolution“, dass der Krankheit jene Gene zugrunde liegen, denen wir die Entwicklung unseres Körpers verdanken.

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In die Erbanlagen, die aus einem Embryo ein Lebewesen mit Billionen von Zellen wachsen lassen, können sich bei den zahlreichen Zellteilungen Kopierfehler einschleichen. Das kann dann statt zu geregeltem Wachstum zu unkontrolliertem Wuchern von Zellen führen – also zu Krebs.

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Selbst die Steinzeitmenschen waren nicht unfehlbar an ihre Umwelt angepasst. Der aufrechte Gang etwa machte sie zu geschickten Generalisten, doch belastet er die Wirbelsäule und führt häufig zu Rückenschmerzen.


Die Evolution arbeitet nicht perfekt: Neben solchen Kompromissen hat unser Körper auch eine ganze Menge Merkmale, die schlichtweg Fehlkonstruktionen sind. Sie sind ein Erbe unserer Geschichte. Denn die Evolution konnte nie bei null anfangen, sie musste immer mit dem, was sie vorfand, arbeiten. Paradebeispiel für eine suboptimale Konstruktion ist unser Auge. Die Netzhaut ist falsch herum angelegt: Die lichtempfindlichen Zellen werden von mehreren darüber liegenden Schichten aus Nervenzellen und Blutgefäßen behindert. Dieser Bau kann zu Problemen führen, etwa bei Diabetikern. Bei ihnen können sich die Blutgefäße vermehren – man spricht dann von einer Retinopathie. Da sie sich über der Netzhaut befinden, kann die Sicht so erheblich eingeschränkt werden.


(> gesamten Artikel lesen)

(eingestellt von R. Leinfelder am 2.5.09)
(Abb. aus www.mohn.ch/docs/ergo_02.jpg)

Nachtrag vom 18.10.09: weitere Infos zu evolutionärer Medizin auf diesem Blog

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