Montag, 28. Oktober 2013

Darwins Erbe für die Zukunft

von Reinhold Leinfelder

Darwins Rolle als Gründungsvater einer modernen Evolutionstheorie ist in den Wissenschaften unbestritten. Wohl weniger bekannt ist, dass der große Wissenschaftler damit auch eine „angewandte Biologie“ mit begründete, die es so vor ihm nicht gab. Vor Darwin bezogen sich angewandte Aspekte im Wesentlichen auf die Heilkunde, auf Genussmittel und die Ernährung.

Einige Beispiele hierzu seien genannt:

Die Atoll-Entstehung nach Charles Darwin aus dem Jahre 1842

Darwins frühe Untersuchungen zu Korallenriffen stimulierten nicht nur seine deutlich später formulierten Gedanken zur Evolutionstheorie, sondern können auch als Meilenstein für geobiologische Forschung betrachtet werden. So formulierte er in seiner - in wesentlichen Zügen bis heute gültigen - Atoll-Theorie das Wechselspiel zwischen relativen Meerespiegeländerungen, Gesteinsabtragung und biologischem Gesteinsaufbau. Hier bewies er bereits Gespür für die Bedeutung ökosystemarer Dienstleistungen, denn wesentliche Aspekte des durch Riffwachstum gewährleisteten Küstenschutzes, aber auch die Bedeutung der Korallenriffe für ihre biologische, durch den Menschen nutzbare Vielfalt gehen auf ihn zurück.

Ebenso mag Darwin als Begründer der Bodenkunde angesehen werden. Sein spätes Buch zur Bedeutung der Regenwürmer für die Humusbildung ist ein weiteres Beispiel für sein Erkennen ökosystemarer Dienstleistungen. Das Buch wurde ein Bestseller und räumte mit der Vorstellung, Regenwürmer seien Schädlinge, ein für alle Mal auf.

Eher anekdotisch bekannt ist die Tatsache, dass auch der Staub auf der Beagle das wissenschaftliche Interesse des Forschers weckte. Darwin schickte Staubproben ans Berliner Naturkundemuseum, wo Ehrenberg erkannte, dass hier eine große Mischung an Kleinstlebewesen und mineralischen Komponenten verschiedenster Herkunft gemeinsam versammelt waren. Von besonderem Interesse ist, dass manche dieser Proben erst 2008 geöffnet wurden und noch keimfähiges Material enthielten. Darwin lieferte uns also nicht nur eine Hochsee-Atmosphärenprobe aus dem Jahr 1832, sondern legte zusammen mit Ehrenberg wiederum Grundlagen für ein Verständnis der Atmosphäre als großen globalen Mixer, eine Erkenntnis, ohne die die heutige Diskussion zu globalen Klimaschutzmaßnahmen gar nicht möglich wäre.

Auch die moderne Biodiversitätsforschung wäre ohne Darwin undenkbar. Die Untersuchung der Artenvielfalt durch Darwin war einerseits die Grundlage für seine Evolutionstheorie, andererseits wurden die durch ihn erkannten Selektions- und Adaptationsmechanismen zum Schlüsselfaktor für die Vorhersage der Auswirkungen menschengemachter Eingriffe und damit für zukünftige Biodiversitätsentwicklungen sowohl in natürlichen als insbesondere auch den dominierend menschengemachten Lebensräumen. Mehr denn je wird hier die Evolutionstheorie auch in Zukunft der Klebstoff für das Verständnis um dynamische Vorgänge und Reaktionen in der belebten Umwelt sein.

Darwin war übrigens keinesfalls ein Sozialdarwinist; der teilweise Missbrauch seiner Theorie zu biologistischen Begründungen untragbarer Politiken geht nicht auf ihn zurück. Zwar legte Darwin mit seinem Spätwerk zu den Gemütsbewegungen bei den Menschen und Tieren etliche Grundlagen für das moderne Fach der evolutionären Psychologie, es war ihm jedoch immer bewusst, dass das menschliche Verhalten besonders stark auch durch die kulturelle Entwicklung geprägt war. Ein aus heutiger Sicht menschenunwürdiges Experiment erlebte Darwin hierbei direkt mit: den „geglückten“ Versuch seines Kapitäns, den sozialisierenden Einfluss der Gesellschaft an Jemmy Button („Jim Knopf“), einem einheimischen Feuerländer zu untersuchen. Die große Frage, zu welchen Anteilen der Mensch durch sein biologisches und kulturelles Erbe sowie seine Gesellschaft geprägt ist und welcher Anteil davon unter welchen Situationen dominiert, trieb also auch schon Darwin um. Die differenzierte Beantwortung dieser Frage ist vermutlich zukunftsentscheidend, denn heute geht es nicht nur darum, gesellschaftliche Prozesse zu verstehen, sondern das Wissen einer Wissensgesellschaft auch im globalen Maßstab in notwendige Handlungen umzusetzen. Um Akzeptanz- und Legitimationsverhalten und damit die Umsetzbarkeit von Verhaltensänderungen hin zu einer nachhaltigen Nutzung unserer Erde über die Generationen hinweg besser zu verstehen, werden Hirnforschung, Soziobiologie, aber auch Psychologie, Soziologie und andere Kulturwissenschaften eng zusammenarbeiten müssen. Die notwendige integrierte interdisziplinäre und transdisziplinäre Zusammenarbeit dazu gibt uns das Erbe Darwins als Zukunftsaufgabe ebenfalls mit auf den Weg.

Dies ist eine stark gekürzte Fassung des Artikels "Leinfelder, R. R. (2013): Nachwort: Darwins Erbe für die Zukunft,  in:  Wrede, P. & WREDE, S. (eds), Charles Darwin Die Entstehung der Arten, kommentierte und illustrierte Ausgabe, S. 538-545, Weinheim (Wiley-VCH Verlag)". > Buchwebseite des Verlags 
Sie erscheint demnächst zusätzlich auf einer Konferenz-Webseite mit Beiträgen rund um das Buchthema.