Samstag, 2. Mai 2009

Kreationisten und Schildkröten

Dass es Kreationisten mit dem Zitieren nicht so genau nehmen bzw. die Zitate aus dem Zusammenhang reißen oder unerwünschte einfach weglassen, wurde schon in einem früheren Beitrag auf diesem Blog exemplarisch belegt. Dr. Hansjörg Hemminger, Biologe und Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg schildert sehr differenziert ein weiteres aktuelles Beispiel, nämlich die Entstehung der Schildkröten, die laut der kreationistischen Gruppe Wort + Wissen angeblich nicht evolutionär erklärbar sei.

Nachfolgend finden Sie Auszüge sowie einen Link zum gesamten Artikel:

Die Evolution des Schildkrötenpanzers
Oder: Die Auflösung eines kreationistischen Arguments

von Hansjörg Hemminger

Die Evolution des Schildkrötenpanzers ist nicht gerade ein Thema, das öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber an ihm lässt sich verdeutlichen, wie der Kreationismus gegenüber der Naturwissenschaft argumentiert und agiert. Die Ausgangsposition der hier zu schildernden Debatte wird durch einen Artikel auf der kreationistischen Internetseite Genesisnet (Junker 2008a) zum Thema "evolutionäre Entwicklungsbiologie" markiert.
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Der Zweck des 45 Seiten langen Artikels von Reinhard Junker ist, die Erklärungskraft von Evo-Devo anzugreifen, um weiter an der Behauptung festhalten zu können, dass bisher kein Mechanismus für makroevolutionäre Veränderungen bekannt sei (Junker 2008a). So schien der Schildkrötenpanzer noch 2008 ein gutes Beispiel für eine unerklärte, und damit aus kreationistischer Sicht mutmaßlich unerklärbare, Bauplanänderung zu liefern. Das älteste bekannte Fossil Proganochelys aus dem oberen Trias (deutsch: Keuper) ist ca. 204 bis 206 Millionen Jahre alt und weist bereits einen voll entwickelten Panzer auf. Allerdings gibt es auch ursprüngliche Merkmale, nämlich Gaumenzähne, einen nicht unter den Panzer rückziehbaren Hals, der durch Knochendornen geschützt wird, und eine "Schwanzkeule". Dass wenig später zwei fossile Arten (Odontochelys und Chinlechelys) mit unvollständiger Panzerung gefunden werden würden (s. unten), konnte niemand wissen.
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Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, was dieses Beispiel gegen Evo-Devo beweisen soll. Dass der Schildkrötenpanzer eine evolutionäre Innovation darstellt, bestreitet niemand. Die zitierten Autoren nehmen jedoch an, der Evolutionsprozess, der zu dieser Innovation führte, lasse sich im Rahmen der evolutionären Entwicklungsbiologie erklären. Und sie gehen gerade nicht von einer "sprunghaften Entstehung" des gesamten Merkmalskomplexes im Sinn des früheren Saltationismus (Otto Schindewolf) oder von einer Makromutation im Sinne von Richard Goldschmidt aus. Diese Vorstellungen sind überholt, unter anderem durch Evo-Devo, und spielen in der Evolutionstheorie praktisch keine Rolle mehr, auch wenn sie häufig noch in populärwissenschaftlichen Publikationen kursieren (vgl. Carroll 2008, 52f.).
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Vermutlich steht hinter Junkers Argumentation die für "Intelligent Design" typische Vermutung, dass nur der "fertige" Schildkrötenbauplan einen Selektionsvorteil gehabt hätte, so dass Zwischenschritte auf diesem Weg dorthin nicht evolutionär fixiert worden wären. Aber diskutiert wird dieser Punkt nicht - und er ist auch nicht plausibel, wie unten noch zu zeigen sein wird. Denn Ende 2008 bewirkte die Entdeckung einer Schildkröte in China, die älter war als Proganochelys, eine kleine paläontologische Sensation. Das Fossil ist rund 220 Millionen Jahre alt und wurde Odontochelys semitestaceae genannt, vom Namen her also eine aquatische "Halbschildkröte" mit bezahntem Kiefer (Li et al. 2008). Dieses Fossil weist ein entwickeltes Brustschild (Plastron) auf, aber noch keinen Rückenschild (Carapax). Die oberen Rippenbögen sind schon verbreitert, bilden aber noch keinen vollständigen Schutz. Wenn man dieses Fossil als Ausgangspunkt für die Evolution des Panzers betrachtet, hätte sich zuerst der Bauchpanzer gebildet, und in einem späteren Schritt der Rückenpanzer. Dass ein einzelnes Fossil keine Entwicklungsreihe belegen kann, ist selbstverständlich, aber immerhin war mit diesem Fund ein mögliches, und sogar plausibles, Modell für einen Zwischenschritt zur Evolution des kompletten Panzers fossil ersichtlich. Daher versuchte Wort und Wissen die Bedeutung des Funds zu entkräften (Junker 2008b).
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Auch wenn die Evolution des Schildkrötenpanzers noch lange nicht völlig geklärt ist: Dass es sich um einen unerklärten Fall von Makroevolution handelt, kann niemand mehr ernsthaft behaupten.

Die verborgene Agenda

Die Art, wie Junker die Evolution des Schildkrötenpanzers behandelt, entspricht dem Stil von Wort und Wissen, den er maßgeblich mit geprägt hat. Das Daten- und Zitatenmaterial ist reichhaltig, dient aber anders als in naturwissenschaftlichen Publikationen nicht dem Ziel, den Stand der Forschung korrekt und komplett darzulegen, sowie die eigene Theorie zu entwickeln und zu begründen. Man kann aus den zitierten Texten nichts darüber entnehmen, wie sich Junker die Evolution der Schildkröten vorstellt. Selbst der Grundsatzartikel von 45 Seiten gibt nur ganz wenige Hinweise auf seine eigene Position. Die Kritik von Wort und Wissen an der Naturwissenschaft ist ausschließlich destruktiv, und dafür werden die Zitate benutzt - wenn es sein muss, auch uminterpretiert. Deshalb werden im Fall der Schildkröten Zitate gewählt, die mit Begriffen wie "sprunghaft" und "Makroevolution" operieren, und andere werden ignoriert. Deshalb werden neue Fossilfunde für bedeutungslos oder sogar zum Problem erklärt; ein evolutionstheoretischer Fortschritt wird von ihnen nicht abgeleitet. Nie schlägt Junker (und Wort und Wissen im Allgemeinen) eine Verbesserung der bisherigen Hypothesen vor. Wie sollte es anders sein, da Wort und Wissen von vornherein davon überzeugt ist, dass zwischen Schildkröten und anderen Reptilien ein Bauplanunterschied vorliegt, der nie durch Evolution überbrückt wurde oder überbrückt werden konnte. Es gibt kein Forschungsinteresse an der Evolution der Schildkröten und an irgendeiner anderen evolutionsbiologischen Frage, sondern nur ein Abwehrinteresse. Das Grundtypen-Modell von Wort und Wissen besagt, dass die Schildkröten mit ihren heutigen 13 Familien vermutlich als rund 13 Grundtypen vor etwa 10.000 Jahren speziell erschaffen wurden. Zu den heutigen Arten entfaltet haben sie sich seither nur innerhalb dieser Grundtypen. Aber dieses Modell wird nicht wissenschaftlich kritisch diskutiert, und schon gar nicht mit den evolutionsbiologischen verglichen. Es liefert eine verborgene Agenda, die nicht offen gelegt wird. Es wäre zu offensichtlich ungenügend, wie sollte es zum Beispiel mit den paläontologischen Daten umgehen?

Dass Junker gegen die Evolutionstheorie argumentiert, um eine eigene Agenda zu begründen, die man als Leser nicht ohne weiteres erfährt, hat eine paradoxe Wirkung und lenkt die Kommunikation in eine bestimmte Richtung. Zum einen immunisiert sich Wort und Wissen dadurch gegen naturwissenschaftliche Einwände. Man nimmt die Rolle der Kritiker ein, stellt sich selbst aber nicht der Kritik, auch wenn vereinzelt die Probleme der eigenen, kreationistischen Sicht eingeräumt werden.

Weiterhin manövriert man sich dadurch in die Rolle des Opfers unsachlicher Angriffe. Wer destruktiv kritisiert, ohne seine eigene Position offen zu legen und diese nötigenfalls zu revidieren, weckt Ressentiments und provoziert Gesprächsverweigerung. Genau das erlebt Wort und Wissen von Seiten der Wissenschaft und kann die Kritiker dadurch als angebliche Ideologen ins Unrecht setzen. Letztere geben irgendwann die fruchtlose Debatte auf, und bestätigen damit erneut dieses Feindbild.

Allerdings muss eingeräumt werden, dass das Feindbild der ideologisch verbohrten und ungläubigen Naturwissenschaftler bei Wort und Wissen vergleichsweise noch harmlos ausfällt. Die von der Studiengemeinschaft gepflegte Kommunikationskultur des permanenten Bemängelns ist der fundamentalistischen Intoleranz und der totalen Ignoranz anderer Kreationisten durchaus vorzuziehen. Für Wort und Wissen schreiben und sprechen in der Regel keine Fanatiker, und die menschliche Abwertung von Andersdenkenden hält sich vergleichsweise in Grenzen. Immerhin setzt die "Kultur des Bemängelns" auch einige Sachkenntnis voraus, und ein Schwarz-Weiß-Denken ist für sie nicht nötig, sondern nur die Fähigkeit, mit kognitiven Diskrepanzen zu leben. Immunisierungsstrategien sind viel besser als Fanatismus, zumindest für die Außenstehenden. Das ist positiv anzumerken. Aber zur Freiheit der Forschung, die unverzichtbare Grundlage der Naturwissenschaft ist, und zur Revision der kreationistischen Sichtweise, führt auch von der Kultur des Bemängelns bei Wort und Wissen kein Weg: Das Denken, die Ergebnisoffenheit und die freie Suche nach Wahrheit wird durch die Anerkennung von Dogmen und Autoritäten massiv beeinträchtigt. Da sich die freie Suche nach Wahrheit historisch von der "Freiheit eines Christenmenschen" ableitet, die zum Beispiel Galileo Galilei gegen das dogmatisch festgefügte Naturbild seiner Kirche in Anspruch nahm, kann man Kreationisten nur wünschen, dass sie zu der Freiheit (zurück) finden, wie Galilei im "Buch der Natur" zu lesen, ohne Angst um ihren Glauben zu haben.

(gesamten Artikel von H. Hemminger lesen: www.evolutionsbiologen.de/HH_Schildkroeten.html )

Die Abbildung zeigt Proganochelys, eine der ältesten Schildkröten der Welt, aus der Oberen Trias von Trossingen, Baden-Württemberg.
(Foto R. Harting © Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart. Aus: Schmidt, U. & Bechly, G. (eds) (2009): Evolution. Der Fluss des Lebens.- Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde, Serie C, Band 66/67)

eingestellt von R. Leinfelder für die DNFS.

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